Angeregt durch den Thread
möchte ich hier eine kleine Schilderung zum Besten geben, die dort eher off topic wäre.
So hat es sich vor einer Woche am Brauneck bei angesagt föhnigen Bedingungen zugetragen:
Als ich ankomme, drängen sich am Brauneck-Gipfel mindestens 100 (eigentlich eher doppelt so viele) Piloten, die alle starten wollten. Leider ist NW-Wind, so dass sich alle auf den NW-Start konzentrieren, wo man max. 2-3 Schirme nebeneinander auslegen kann. So ein Gedränge hab ich persönlich noch nie gesehen, außer auf dem Weihnachtsmarkt oder bei einem Wettkampf, aber da verhalten sich die Leute anders - was eine eigene Geschichte wäre.
Irgendwann stelle auch ich mich am Start an, mit Gurtzeug an und Schirm im Arm. Ich stehe dann geschlagene 1,5 Stunden, weil ich mich nicht vordrängeln will und ein gewisses akademisches Interesse dafür entwickle, was hier gerade so passiert:
Manche schaffen es, in 2 Minuten zu starten. Sie sind fertig eingehängt, laufen vor, werfen den Schirm hin, fragen ob jemand hilft ihn auseinanderzuziehen (sonst macht das nämlich tatsächlich fast niemand, obwohl 50 untätige Leute zusehen), schütteln kurz die Leinen und starten.
Dann gibt es welche, die seelenruhig am Startplatz den Packsack aufmachen und ohne das GZ anzuhaben ihren Schirm ausbreiten, jede Leine sortieren, alles gemütlich ins GZ packen, ihre Elektronik zusammensuchen und aktivieren, den Helm (mehrfach!) auf und ab setzen, sich ins GZ zwängen, und dann als Höhepunkt den Schirm einhängen. Sie merken nicht, dass 50 fertig aufgerödelte Piloten hinter ihnen stehen - oder wollen es nicht.
Nun gibt es die, denen dabei der Kragen platzt und die dann einfach vor rennen und dem "Gemütsmenschen" (die Bezeichnung hab ich im anderen Thread geklaut) ihren Schirm vor oder auf seinen werfen. Natürlich macht das dem Gemütsmenschen nichts aus und er wartet einfach in buddhistischer Gleichmut und unter kompletter Einstellung seiner Startvorbereitung bis der Überholer weg ist. Solange geht aber logischerweise bei ihm auch nichts vorwärts.
Einige, die bereits länger warten als der "Überholer" kochen nun heftig vor sich hin. Sie haben keine Lust mehr zu warten, bis der Gemütsmensch vielleicht doch endlich mal startet, wollen sich auch nicht überholen lassen, sind aber dennoch zu höflich oder schüchtern um den Überholer in die Schranken zu weisen. Um nicht zu platzen, müssen sie zwecks Wärmeaustausch sogar Helm und Handschuhe abnehmen, was sie noch mehr stört, sie sind schließlich perfekt vorbereitet gewesen. Dass mittlerweile die ersten an der beeindruckend hohen Basis kreisen, macht es nicht besser.
Ach ja, der Überholer macht derweil natürlich in seiner Hektik nen Startabbruch. Nun müsste er eigentlich wieder hoch laufen und den Schirm erneut (seiner Mentalität entsprechend) dem Gemütsmenschen vor die Füße werfen. Da er aber dem Spott (oder zumindest spöttischen Blick) der anderen Wartenden entgehen will, legt er den Schirm einfach 10 m weiter unten an seiner Einschlagstelle wieder aus - die leider nicht wirklich zum starten geeignet ist. An dieser Stelle geht's später weiter...
Währenddessen startet oben niemand mehr, weil man ja nicht so genau weiß, was der Überholer 10 Meter weiter unten so treibt. Normalerweise ordnet sich die Startreihenfolge zwischen mehreren Startbereiten nebeneinander durch Blicke, kurze Zurufe etc. Der Überholer indessen ist außerhalb dieser unsichtbaren Kommunikationszone (um dem Spott zu entgehen, der ebenfalls über Blicke und genuschelte Bemerkungen läuft) und somit nicht für diese Signale empfänglich. Also warten alle, bis er weg ist. Unnötig zu erwähnen, dass er wieder abbrechen muss - er ist schließlich in einer deutlich unkommoderen Startposition als am Anfang. Wenigstens ist er jetzt so weit unten, dass er zusammenpacken und wieder hochlaufen muss. Bahn frei.
Faszinierenderweise kann sich der Start eines Gemütsmenschen durch Aufbau, überholt werden, eigene Startabbrüche - nach denen im Idealfall sogar der Schirm wieder ausgehängt und die automatisierte Prozedur (Stichwort "automatisierte Abläufe bedeuten Sicherheit!") von vorne beginnt - und noch etwas anderes, das ich jetzt in Unkenntnis der individuellen Wirklichkeit mal als "Meditation" bezeichne, durchaus über eine halbe Stunde hinziehen. Ehrlich!! Manchmal sieht man den Schirm des Gemütsmenschen auch über einige Zeit gar nicht mehr, weil er von anderen Schirmen komplett zugedeckt ist.
Unterdessen haben mehrere der Wartenden das Geschehen derart gebannt verfolgt, dass sie von besonders cleveren, die Lage ausnützenden Piloten überholt wurden. Plötzlich steht also der Typ mit dem gelben Helm, der eben noch hinter mir war, vor mir. Was tun? Dem ersten Impuls folgend einen deutlichen Schritt vorwärts machen und ihn anrempeln - um deutlich zu machen, dass zwischen mir und dem vor uns ausgelegten Schirm eigentlich gar kein Platz ist/war.
Wenn dies nun nebeneinander viele Piloten tun, entsteht eine Art Herdenbewegung, die eigentlich wohl nur aus der Luft so richtig zu erfassen wäre. Ich kenne sie sonst nur von Rockkonzerten in der Nähe der Bühne. Konzerte werden dann sogar manchmal abgebrochen. Im Endeffekt führt der kollektive Schritt nach vorne dazu, dass der (gute) Teil des Startplatzes Meter für Meter schrumpft und die eigentlich startenden immer weniger Platz haben und immer mehr Startabbrüche produzieren. Das dauert und nervt und provoziert weitere aggressive Schritte nach vorn.
Weiter links gibt es noch eine Stelle, an der man auch einen Schirm hinlegen kann. Menschen, die zum Beispiel eine rote Ampel schon sehen obwohl vor ihnen noch zwei andere Autos heftig Gas geben, haben diese Stelle zwar auch schon entdeckt. Aber sie haben gesehen, dass die virtuelle Startbahn vor dieser Stelle (wenn man sie sich parallel zur Hauptstartbahn vorstellt) ziemlich schnell mit einigen Bäumen kollidiert. Deshalb haben sie diese Stelle als unnütz eingeordnet. Weit gefehlt! Die schlauen Piloten gehen nämlich (an mindestens 20 wartenden vorbei) direkt dort hin, legen ihren Schirm aus und ziehen ihn auf. Jetzt merken sie "plötzlich" dass als Startbahn nur die Diagonale in Frage kommt. Selbstredend, dass dies den Start der weiter rechts präparierten Startwilligen zuverlässig verzögert.
Natürlich gibt es auch noch die "Groundhandler" aus dem Flachland. Sie müssen auch alle hier sein, wie um alles in der Welt sollten sonst 200 Piloten zusammenkommen? Diese Spezies ist (meist zurecht) besonders stolz auf ihre beeindruckenden Startfähigkeiten. Und wann hat man schon mal ein derart großes und aufmerksames Publikum? Rückwärts aufziehen ist sowieso obligatorisch ("ich kann schon lange nicht mehr vorwärts..."), auch wenn grad Nullwind ist. Da es selbst den Göttern des Groundhandlings manchmal schwerfällt ohne rückwärtigen Anlauf (dort liegt nämlich noch der Überholer von vorhin) im Stehen den Schirm bis in den Zenith zu bringen, fällt dieser gerne mal auf den Boden zurück. Das tarnt man gekonnt als absichtliches Ausrichten und Vorfüllen. Fünf mal in Folge. Zum Glück frischt der Wind dann doch noch auf 5 km/h auf. Nun lässt sich hervorragend große Kunst demonstrieren: Das "Zerlegen des Starts in zwei Phasen: Aufziehen. Starten." Zwischen diesen Phasen dürfen gerne auch mal ein paar Minuten vergehen, in denen man selbstvergessen wie auf der menschenleeren Wiese in abertausenden Groundhandlingstunden den Schirm über sich balanciert und sportlich in den Knien federnd von links nach rechts und von vorne nach hinten tänzelt. Mit einem Leichtgurt ausgerüstet kann man das theoretisch sogar unendlich durchhalten. Meist legt das dann gleich alle drei Startspuren lahm. Im Idealfall startet der Handler dann irgendwann (freiwillig oder weil er doch ausgehebelt wird). Wenns dumm läuft, fällt der Schirm wieder runter (Absicht!) und das Spiel beginnt von vorn. Ich glaube Groundhandler sind im Prinzip auch nur Gemütsmenschen.
Manche Menschen können ihr Temperament in diesem Schmelztiegel der Startphilosophien nur schwer im Zaum halten. Um sich abzulenken, beginnen sie dann also in der Startherde ein Gespräch mit dem Nächstbesten, den sie kennen. Blöderweise ist dieses Gespräch dann gerade so interessant ("10 Meter Steigen - und dann: ZACK!! Monsterklapper sag ich Dir..."), dass sie nicht mitbekommen, dass sie endlich an der Reihe wären.
Wenn nun in der Wartereihe hinter den ins Gespräch vertieften keine Drängler sondern nur höfliche Menschen stehen, kann es tatsächlich vorkommen, dass der heiß begehrte Startplatz minutenlang leer bleibt. Ich schwöre bei meiner Großmutter, dass ich das mit eigenen Augen gesehen habe.
In der Realität ist aber in der Phalanx der höflich Wartenden normalerweise mindest einer, dessen Geist willig aber sein Fleisch schwach ist. Also nimmt er allen Mut zusammen und geht an den sprechenden vorbei nach vorne. Nun entsteht eine Art Kapillareffekt, ähnlich wie wir es von in Röhrchen aufsteigender Flüssigkeit kennen. Durch die entstandene Lücke tröpfeln sofort tatbereite Überholer, breiten sich seitlich vor der eigentlichen Wartereihe aus und bilden eine zweite, neue Reihe. Diese tanzartige, nach vorne gerichtete Neuformierung wird vom Spannungsfeld aus Höflichkeit und Frechheit motorisiert und ist eigentlich nur durch die Länge des Startplatzes begrenzt. Aber jetzt schweife ich wohl zu sehr ins Philosophische ab.
Schließlich geschieht etwas gänzlich Unerwartetes. Der Wind dreht auf Süd!
Zuerst einmal wird dieser Umstand geflissentlich ignoriert und jeder überlegt im Stillen, was denn das nun für Konsequenzen hat. Die hintersten, die sich eben erst angestellt haben, bräuchten sich eigentlich nur umzudrehen und könnten am riesigen Südstart problemlos starten. Wäre zwar irgendwie unfair, aber so ist das Leben halt. Man kennt den Effekt von der Supermarkt-Kasse oder vom Bassano-Shuttle. Die, die aber seit eineinhalb Stunden anstehen und sich nun in der vordersten Reihe befinden, haben echt was zu verlieren. Geben sie auf und gehen auf Süd, sind sie dort wieder hinten. Je länger sie aber bleiben, desto weiter hinten sind sie. Und das nach eh schon eineinhalb Stunden! Wenn sie aber gleich die Pole Position aufgeben und losrennen - und dann dreht der Wind wieder auf Nord?! Nicht auszudenken! Ich schaue in die Gesichter, die aufgerissenen Augen, die erstarrte Mimik. Poker ist ein Witz dagegen.
Nach der ersten Schreckstarre reagieren die ersten und wandern auf Süd ab. Der Wartepulk wird zunehmend löchrig. Manche, die erst gerade am Brauneck angekommen sind, sind gar schon in der Luft! Bevor es zu ersten Suiziden in der vorderen Reihe kommt, dreht der Wind zum Glück wieder auf Nordwest. Und zwar derart eindeutig, dass die soeben auf Süd gestarteten Besserwisser im Lee verschwinden wie versenkte Schiffe.
Die Welt ist doch gerecht. Und ich warte weiter friedlich auf meinen Platz.
P.S.: Dieser Artikel ist Satire. In Wirklichkeit war es gar nicht schlimm. Die eineinhalb Stunden stimmen zwar, aber wir sind alle dennoch ausgiebig und genügend geflogen :-)
möchte ich hier eine kleine Schilderung zum Besten geben, die dort eher off topic wäre.
So hat es sich vor einer Woche am Brauneck bei angesagt föhnigen Bedingungen zugetragen:
Als ich ankomme, drängen sich am Brauneck-Gipfel mindestens 100 (eigentlich eher doppelt so viele) Piloten, die alle starten wollten. Leider ist NW-Wind, so dass sich alle auf den NW-Start konzentrieren, wo man max. 2-3 Schirme nebeneinander auslegen kann. So ein Gedränge hab ich persönlich noch nie gesehen, außer auf dem Weihnachtsmarkt oder bei einem Wettkampf, aber da verhalten sich die Leute anders - was eine eigene Geschichte wäre.
Irgendwann stelle auch ich mich am Start an, mit Gurtzeug an und Schirm im Arm. Ich stehe dann geschlagene 1,5 Stunden, weil ich mich nicht vordrängeln will und ein gewisses akademisches Interesse dafür entwickle, was hier gerade so passiert:
Manche schaffen es, in 2 Minuten zu starten. Sie sind fertig eingehängt, laufen vor, werfen den Schirm hin, fragen ob jemand hilft ihn auseinanderzuziehen (sonst macht das nämlich tatsächlich fast niemand, obwohl 50 untätige Leute zusehen), schütteln kurz die Leinen und starten.
Dann gibt es welche, die seelenruhig am Startplatz den Packsack aufmachen und ohne das GZ anzuhaben ihren Schirm ausbreiten, jede Leine sortieren, alles gemütlich ins GZ packen, ihre Elektronik zusammensuchen und aktivieren, den Helm (mehrfach!) auf und ab setzen, sich ins GZ zwängen, und dann als Höhepunkt den Schirm einhängen. Sie merken nicht, dass 50 fertig aufgerödelte Piloten hinter ihnen stehen - oder wollen es nicht.
Nun gibt es die, denen dabei der Kragen platzt und die dann einfach vor rennen und dem "Gemütsmenschen" (die Bezeichnung hab ich im anderen Thread geklaut) ihren Schirm vor oder auf seinen werfen. Natürlich macht das dem Gemütsmenschen nichts aus und er wartet einfach in buddhistischer Gleichmut und unter kompletter Einstellung seiner Startvorbereitung bis der Überholer weg ist. Solange geht aber logischerweise bei ihm auch nichts vorwärts.
Einige, die bereits länger warten als der "Überholer" kochen nun heftig vor sich hin. Sie haben keine Lust mehr zu warten, bis der Gemütsmensch vielleicht doch endlich mal startet, wollen sich auch nicht überholen lassen, sind aber dennoch zu höflich oder schüchtern um den Überholer in die Schranken zu weisen. Um nicht zu platzen, müssen sie zwecks Wärmeaustausch sogar Helm und Handschuhe abnehmen, was sie noch mehr stört, sie sind schließlich perfekt vorbereitet gewesen. Dass mittlerweile die ersten an der beeindruckend hohen Basis kreisen, macht es nicht besser.
Ach ja, der Überholer macht derweil natürlich in seiner Hektik nen Startabbruch. Nun müsste er eigentlich wieder hoch laufen und den Schirm erneut (seiner Mentalität entsprechend) dem Gemütsmenschen vor die Füße werfen. Da er aber dem Spott (oder zumindest spöttischen Blick) der anderen Wartenden entgehen will, legt er den Schirm einfach 10 m weiter unten an seiner Einschlagstelle wieder aus - die leider nicht wirklich zum starten geeignet ist. An dieser Stelle geht's später weiter...
Währenddessen startet oben niemand mehr, weil man ja nicht so genau weiß, was der Überholer 10 Meter weiter unten so treibt. Normalerweise ordnet sich die Startreihenfolge zwischen mehreren Startbereiten nebeneinander durch Blicke, kurze Zurufe etc. Der Überholer indessen ist außerhalb dieser unsichtbaren Kommunikationszone (um dem Spott zu entgehen, der ebenfalls über Blicke und genuschelte Bemerkungen läuft) und somit nicht für diese Signale empfänglich. Also warten alle, bis er weg ist. Unnötig zu erwähnen, dass er wieder abbrechen muss - er ist schließlich in einer deutlich unkommoderen Startposition als am Anfang. Wenigstens ist er jetzt so weit unten, dass er zusammenpacken und wieder hochlaufen muss. Bahn frei.
Faszinierenderweise kann sich der Start eines Gemütsmenschen durch Aufbau, überholt werden, eigene Startabbrüche - nach denen im Idealfall sogar der Schirm wieder ausgehängt und die automatisierte Prozedur (Stichwort "automatisierte Abläufe bedeuten Sicherheit!") von vorne beginnt - und noch etwas anderes, das ich jetzt in Unkenntnis der individuellen Wirklichkeit mal als "Meditation" bezeichne, durchaus über eine halbe Stunde hinziehen. Ehrlich!! Manchmal sieht man den Schirm des Gemütsmenschen auch über einige Zeit gar nicht mehr, weil er von anderen Schirmen komplett zugedeckt ist.
Unterdessen haben mehrere der Wartenden das Geschehen derart gebannt verfolgt, dass sie von besonders cleveren, die Lage ausnützenden Piloten überholt wurden. Plötzlich steht also der Typ mit dem gelben Helm, der eben noch hinter mir war, vor mir. Was tun? Dem ersten Impuls folgend einen deutlichen Schritt vorwärts machen und ihn anrempeln - um deutlich zu machen, dass zwischen mir und dem vor uns ausgelegten Schirm eigentlich gar kein Platz ist/war.
Wenn dies nun nebeneinander viele Piloten tun, entsteht eine Art Herdenbewegung, die eigentlich wohl nur aus der Luft so richtig zu erfassen wäre. Ich kenne sie sonst nur von Rockkonzerten in der Nähe der Bühne. Konzerte werden dann sogar manchmal abgebrochen. Im Endeffekt führt der kollektive Schritt nach vorne dazu, dass der (gute) Teil des Startplatzes Meter für Meter schrumpft und die eigentlich startenden immer weniger Platz haben und immer mehr Startabbrüche produzieren. Das dauert und nervt und provoziert weitere aggressive Schritte nach vorn.
Weiter links gibt es noch eine Stelle, an der man auch einen Schirm hinlegen kann. Menschen, die zum Beispiel eine rote Ampel schon sehen obwohl vor ihnen noch zwei andere Autos heftig Gas geben, haben diese Stelle zwar auch schon entdeckt. Aber sie haben gesehen, dass die virtuelle Startbahn vor dieser Stelle (wenn man sie sich parallel zur Hauptstartbahn vorstellt) ziemlich schnell mit einigen Bäumen kollidiert. Deshalb haben sie diese Stelle als unnütz eingeordnet. Weit gefehlt! Die schlauen Piloten gehen nämlich (an mindestens 20 wartenden vorbei) direkt dort hin, legen ihren Schirm aus und ziehen ihn auf. Jetzt merken sie "plötzlich" dass als Startbahn nur die Diagonale in Frage kommt. Selbstredend, dass dies den Start der weiter rechts präparierten Startwilligen zuverlässig verzögert.
Natürlich gibt es auch noch die "Groundhandler" aus dem Flachland. Sie müssen auch alle hier sein, wie um alles in der Welt sollten sonst 200 Piloten zusammenkommen? Diese Spezies ist (meist zurecht) besonders stolz auf ihre beeindruckenden Startfähigkeiten. Und wann hat man schon mal ein derart großes und aufmerksames Publikum? Rückwärts aufziehen ist sowieso obligatorisch ("ich kann schon lange nicht mehr vorwärts..."), auch wenn grad Nullwind ist. Da es selbst den Göttern des Groundhandlings manchmal schwerfällt ohne rückwärtigen Anlauf (dort liegt nämlich noch der Überholer von vorhin) im Stehen den Schirm bis in den Zenith zu bringen, fällt dieser gerne mal auf den Boden zurück. Das tarnt man gekonnt als absichtliches Ausrichten und Vorfüllen. Fünf mal in Folge. Zum Glück frischt der Wind dann doch noch auf 5 km/h auf. Nun lässt sich hervorragend große Kunst demonstrieren: Das "Zerlegen des Starts in zwei Phasen: Aufziehen. Starten." Zwischen diesen Phasen dürfen gerne auch mal ein paar Minuten vergehen, in denen man selbstvergessen wie auf der menschenleeren Wiese in abertausenden Groundhandlingstunden den Schirm über sich balanciert und sportlich in den Knien federnd von links nach rechts und von vorne nach hinten tänzelt. Mit einem Leichtgurt ausgerüstet kann man das theoretisch sogar unendlich durchhalten. Meist legt das dann gleich alle drei Startspuren lahm. Im Idealfall startet der Handler dann irgendwann (freiwillig oder weil er doch ausgehebelt wird). Wenns dumm läuft, fällt der Schirm wieder runter (Absicht!) und das Spiel beginnt von vorn. Ich glaube Groundhandler sind im Prinzip auch nur Gemütsmenschen.
Manche Menschen können ihr Temperament in diesem Schmelztiegel der Startphilosophien nur schwer im Zaum halten. Um sich abzulenken, beginnen sie dann also in der Startherde ein Gespräch mit dem Nächstbesten, den sie kennen. Blöderweise ist dieses Gespräch dann gerade so interessant ("10 Meter Steigen - und dann: ZACK!! Monsterklapper sag ich Dir..."), dass sie nicht mitbekommen, dass sie endlich an der Reihe wären.
Wenn nun in der Wartereihe hinter den ins Gespräch vertieften keine Drängler sondern nur höfliche Menschen stehen, kann es tatsächlich vorkommen, dass der heiß begehrte Startplatz minutenlang leer bleibt. Ich schwöre bei meiner Großmutter, dass ich das mit eigenen Augen gesehen habe.
In der Realität ist aber in der Phalanx der höflich Wartenden normalerweise mindest einer, dessen Geist willig aber sein Fleisch schwach ist. Also nimmt er allen Mut zusammen und geht an den sprechenden vorbei nach vorne. Nun entsteht eine Art Kapillareffekt, ähnlich wie wir es von in Röhrchen aufsteigender Flüssigkeit kennen. Durch die entstandene Lücke tröpfeln sofort tatbereite Überholer, breiten sich seitlich vor der eigentlichen Wartereihe aus und bilden eine zweite, neue Reihe. Diese tanzartige, nach vorne gerichtete Neuformierung wird vom Spannungsfeld aus Höflichkeit und Frechheit motorisiert und ist eigentlich nur durch die Länge des Startplatzes begrenzt. Aber jetzt schweife ich wohl zu sehr ins Philosophische ab.
Schließlich geschieht etwas gänzlich Unerwartetes. Der Wind dreht auf Süd!
Zuerst einmal wird dieser Umstand geflissentlich ignoriert und jeder überlegt im Stillen, was denn das nun für Konsequenzen hat. Die hintersten, die sich eben erst angestellt haben, bräuchten sich eigentlich nur umzudrehen und könnten am riesigen Südstart problemlos starten. Wäre zwar irgendwie unfair, aber so ist das Leben halt. Man kennt den Effekt von der Supermarkt-Kasse oder vom Bassano-Shuttle. Die, die aber seit eineinhalb Stunden anstehen und sich nun in der vordersten Reihe befinden, haben echt was zu verlieren. Geben sie auf und gehen auf Süd, sind sie dort wieder hinten. Je länger sie aber bleiben, desto weiter hinten sind sie. Und das nach eh schon eineinhalb Stunden! Wenn sie aber gleich die Pole Position aufgeben und losrennen - und dann dreht der Wind wieder auf Nord?! Nicht auszudenken! Ich schaue in die Gesichter, die aufgerissenen Augen, die erstarrte Mimik. Poker ist ein Witz dagegen.
Nach der ersten Schreckstarre reagieren die ersten und wandern auf Süd ab. Der Wartepulk wird zunehmend löchrig. Manche, die erst gerade am Brauneck angekommen sind, sind gar schon in der Luft! Bevor es zu ersten Suiziden in der vorderen Reihe kommt, dreht der Wind zum Glück wieder auf Nordwest. Und zwar derart eindeutig, dass die soeben auf Süd gestarteten Besserwisser im Lee verschwinden wie versenkte Schiffe.
Die Welt ist doch gerecht. Und ich warte weiter friedlich auf meinen Platz.
P.S.: Dieser Artikel ist Satire. In Wirklichkeit war es gar nicht schlimm. Die eineinhalb Stunden stimmen zwar, aber wir sind alle dennoch ausgiebig und genügend geflogen :-)
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